Deutschland steckt in einer Krise. In einer Flüchtlingskrise. Da sind sich alle einig. Aber was ist dran?
Eine „Krise“ ist laut Duden eine „schwierige Lage, Situation oder Zeit“, die den „Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“, eine „kritische Situation“, eine „Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins“.
Von Zeiten der Gefährdung hätten die Menschen, die zur Zeit in Deutschland Schutz suchen, sicher einiges zu erzählen. Aber nicht sie werden mit der Rede von der „Flüchtlingskrise“ angesprochen, sondern wir. Wir stehen, so will man uns sagen, am Rande des Abgrunds.
Und das ist Unsinn. Kein Alteingesessener ist bisher durch die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge in diesem Jahr gefährdet. Keiner von uns muss im hereingebrochenen Frost in ungeheizten Zelten schlafen. Für die meisten hat sich ihr Leben noch nicht einmal wahrnehmbar geändert. Um es mit Andrej Reisin zu sagen: „Die einzigen, deren Leben sich in diesem Sommer massiv verändert hat, sind diejenigen, die in Behörden und Hilfsorganisationen haupt- oder ehrenamtlich dabei sind, Flüchtlingen zu helfen und die Krise zu bewältigen. Den Dank dafür bekommen sie alle viel zu selten, stattdessen müssen sie sich allzu oft noch vom rechtsradikalem Pöbel beschimpfen lassen.“
Syrien hat eine Flüchtlingskrise. Syriens Nachbarstaaten haben eine Flüchtlingskrise. Von 22 Millionen Einwohnern Syriens sind rund 11,5 Millionen auf der Flucht. Davon gut siebeneinhalb Millionen Binnenvertriebene, die innerhalb des Landes zum jeweils nächsten Ort weiterziehen, der noch halbwegs sicher vor Assads Fassbomben, ISIS-Fanatikern und neuerdings auch russischen Raketen scheint. Und rund vier Millionen in den Nachbarstaaten. Allein der Libanon hat nach UN-Zählung eine Million Syrer aufgenommen, bei einer eigenen Bevölkerung von etwa vier Millionen. Zum Vergleich: Auf Deutschland hochgerechnet, entspräche das einer Aufnahme von 20 Millionen Menschen. Der kompletten syrischen Bevölkerung.
Davon sind wir weit entfernt. Und darum hat Deutschland keine Flüchtlingskrise. Höchstens eine gefühlte. Real haben wir ein Unterbringungsproblem. Eines, das obendrein selbst verschuldet ist, denn über Jahre haben wir hierzulande Aufnahmekapazitäten abgebaut – obwohl die Flüchtlingszahlen weltweit gestiegen sind.
Und wir haben eine Krise der europäischen Solidarität. Wie Europas Regierungen die Verantwortung für Flüchtlinge einander nach dem St. Florians-Prinzip zuschieben, ist beschämend. EU-Kommissionspräsident Juncker hat recht, wenn er das Problem Europas so beschreibt: „Es fehlt an Europa in dieser Europäischen Union. Und es fehlt an Union in dieser Europäischen Union.“
Jetzt holt die Realität uns ein. Darüber sollten wir nicht jammern. Sondern nach Wegen suchen, die Verantwortung für Flüchtlinge europaweit vernünftig zu teilen. Eine starre Quote wird da wenig helfen. Menschen lassen sich nicht auf Dauer auf Länder und Orte festlegen, wo sie keine Perspektive haben. Und wir müssen in Deutschland darangehen, die Menschen vor dem nahenden Winter menschenwürdig unterzubringen. Allen Respekt und alle Unterstützung denen, die Tag für Tag hart daran arbeiten, ob haupt- oder ehrenamtlich. Und dann werden wir den Menschen helfen müssen, sich zu integrieren. Die Sprache zu lernen, Berufsqualifikationen zu verbessern, Arbeit zu finden.
Damit die gefühlte Krise zur realen Chance wird.